Der direkte Umweg als Ziel
Erst wenn das Ideal von Kommunikation in Form eines völlig deckungsgleichen Verständnisses zwischen Sendern und Empfängern erreicht ist, werden Missverständnisse endgültig aufhören. Also nie. Bis dahin muss man sehr bewusst versuchen, sie zu vermeiden. Oder bereits entstandene ausräumen. Zum Beispiel jenes weit verbreitete, dass Labyrinthe und Irrgärten das gleiche seien.
Das Beispiel ist mit Bedacht gewählt. Wir wollen damit auf etwas hinaus. Kommunikation nämlich hat einiges mit dem uralten Menschheits-Symbol des Labyrinths zu tun, und Change-Kommunikation, also die kommunikative Begleitung von Veränderungsprozessen, allemal. Dazu ist zu wissen, dass ein Labyrinth eben kein Irrgarten ist, sondern in gewisser Weise sein Gegenteil: Während Irrgärten erst in der Renaissance für gelangweilte Aristokraten angelegt wurden, um sich darin mit neckischen Spielchen ihre Zeit zu vertreiben – sie also ganz bewusst dazu dienen, die Menschen zum Narren zu halten –, hat das Sinnbild des Labyrinths seinen Ursprung im Mythos. Also in der Suche nach Sinn.
Sie wissen schon: Die Sache mit dem Minotauros. Der Held Theseus wagt sich ins Höhlensystem Labyrinthos, um das Untier zu überwinden und zu töten. Als ihm das gelungen ist, weist ihm der Faden, den er auf Ariadnes Geheiß ausgelegt hat, den Weg zurück in die Arme der Liebsten. Auf den Faden kommen wir an anderer Stelle noch zurück. Jetzt interessiert uns erst einmal der Weg.
Dass der kürzeste Weg nicht unbedingt der beste ist, wissen alle, denen bisweilen der Weg das Ziel ist. Der Flaneur zum Beispiel will nicht in erster Linie von A nach B gelangen, er will flanieren, also genießen. Anders der Pilger, seines ist die spirituelle Erfahrung. Der Pilgerweg allerdings ist nicht reiner Selbstzweck oder Ziel seiner selbst. Er ist ein Weg von jener indirekten Art, der nur in seiner Form als Umweg die Voraussetzung dafür ist, dass das Ziel als solches erreicht werden kann. Anders: Wäre er ein direkter Weg, wäre das erreichte Ziel nicht das angestrebte Ziel, selbst wenn es am gleichen Ort läge. Der Weg ist Teil des Ziels. Das ist das Wesen des Labyrinths, und das bringt uns wieder zum Change und zu seiner Kommunikation.
Der digitale Wandel ist in aller Munde. Dabei ist er ja nur die beschleunigte Gegenwartsversion des ewigen Wandels aller Dinge. Sillstand ist gleichbedeutend mit Tod, und sogar die unbelebte Natur ist stetem Wandel unterworfen. Wer das allerdings oft gar nicht mag, ist der Mensch. Den meisten Menschen sind Veränderungen eher verhasst, sie lieben das Beständige, Vertraute, Sichere. Neues birgt Risiko, und dessen Kitzel schätzt eher eine Minderheit. Die Verhältnisse müssen schon als sehr schlecht empfunden werden, damit eine Mehrheit das Risiko von Veränderung der Sicherheit von Bestehendem vorzieht. Und das werden sie noch nicht. Der Wandel der Welt wird also irgendwie anerkannt, nicht aber seine Konsequenz: die Notwendigkeit des eigenen Wandels.
Wie verkehrt und gefährlich diese Verdrängung ist, wissen die, die mit wachem Blick den Wandel der Welt an seinen Hot Spots beobachten. Wer bereit ist, Wirklichkeit anzuerkennen als das, was ist, betrachtet einen Blick ins Silicon Valley als Blick in die eigene Zukunft. Was einen in diesem Fall noch mehr in Unruhe versetzt als das rasante Tempo des Wandels dort, ist eben die Tendenz hier, ihn schlicht aussitzen zu wollen. Die einen erklären die Herausforderungen der Digitalisierung, vor dem Hintergrund ihrer gerade noch andauernden Erfolge nach Rezepten von bisher, für sich selbst als irrelevant. Die anderen sehen diese Herausforderungen schon, möchten sie aber mit den Erfolgsrezepten der Vergangenheit bewältigen. Sogar wenn der Wandel nicht mehr zu leugnen ist, möchten die meisten ihn durchleben, ohne sich selbst dabei zu wandeln.
Die Beobachtung zeigt, dass dies für Führungskräfte auf oberster Hierarchieebene eine besondere Challenge darstellt. Immer mehr Führungspersönlichkeiten sehen ganz genau, dass ihre Organisation sich auf den Wandel einlassen, ihn für sich ganz konkret gestalten muss. Doch auch sie sind Menschen, und ihr erfolgreicher Karriereweg ganz nach oben ist nach Regeln gegangen, die künftig vielfach nicht mehr gelten, aber konstituierend für den eigenen Status sind. Jetzt müssen sie sich selbst auf einen Weg machen. Zugleich müssen sie ihre Organisation auf diesen Weg bringen. Einen Weg, der Teil des Ziels ist. Der, ganz gleich wie lang und windungsreich, Bedingung der Zielerreichung ist. Der alle, die ihn gehen, verändert. Der lehrt, dass es Ziele gibt, die man auf Umwegen erreicht, weil sie im Grunde der Umweg sind. Sie sehen, worauf das hinauswill? Das Labyrinth als Weg des Wandels.
Wie aber nimmt man als Manager die Mitarbeiter seines Unternehmens mit auf eine Reise, deren Ziel unklar und beweglich ist, deren Route sich von Schritt zu Schritt ergibt – und die man selbst, für sich selbst, vielleicht nicht gerne gehen möchte?
Entscheidend ist hier die Zieldefinition. Es geht heute schlicht nicht mehr darum, die Mitarbeiter auf Ziele einzuschwören, die verheißungsvoll am Ende eines langen Weges liegen. Ziele, die sich genau benennen und erkennen lassen. Deren Erreichung einen Endpunkt oder zumindest eine entscheidende Zäsur darstellt. Im Gegenteil: Der Wandel ist das Ziel. Auf dem Weg zu sein ist das Ziel. Und zwar für jeden im Unternehmen. Der digitale Wandel muss begriffen werden als ein Weg, bei dem es nicht ums Ankommen geht, sondern ums Gehen. Wo sollte man auch ankommen? Im Grunde ist der beschleunigte Wandel der Digitalisierung eine gute Gelegenheit zu erkennen, dass Bewegung heute weniger denn je Mittel ist, sondern Sinn und Zweck. Die unternehmerischen Erfolge liegen am Wegesrand.
Folglich sind die Etappen kurz und werden von der Notwendigkeit begrenzt, auf die immer schnelleren Impulse von Technik und Kunden zu reagieren. Das fordert Reaktionsfähigkeit, Flexibilität, Geistesgegenwart und Kommunikationsfähigkeit. Und das ist tatsächlich fordernd. Entsprechend lohnend muss jeder Arbeitstag für jeden im Unternehmen sein. Der Weg des Wandels ist tägliche Sinnstiftung im Genuss der Arbeit. Ganz recht: Freude an der Arbeit. Jeden Tag. Das Ziel liegt in Wahrheit nie in der Zukunft, sondern stets im Heute.
So macht das Bild des Labyrinths für Führungskräfte im Besonderen, aber letztlich für alle im Unternehmen, tatsächlich Sinn: Wer den Weg des Wandels geht, kann das Ziel gar nicht verfehlen. Weil das Labyrinth eben kein Irrgarten ist.