Von roten und anderen Fäden
Es hat, wie so oft im Leben, mit dieser Wortmeldung etwas länger gedauert als vorgesehen, doch jetzt nehmen wir den Faden einfach wieder auf. Wohin er uns führt, werden wir sehen. Was wir aber bereits an dieser Stelle sagen können: rot ist er nicht.
In einer Zeit, in der für viele nur das Zählbare zählt, gehört eine Analyse von Google-Treffern inzwischen zu den validen Evidenzindikatoren. Wie weit man damit kommt, haben wir ausprobiert. Wir haben einfach mal die Kombination von „Kommunikation“ und „roter Faden“ gegoogelt. Das Ergebnis war – wie zu erwarten. Nämlich die stattliche Anzahl von rund 450.000 Treffern. Und das nach nur 0,33 Sekunden. Man interpretiert in diese Zahl gewiss nicht zu viel hinein, wenn man aus ihr eine gewisse Beliebtheit des Bildes vom roten Faden in der Kommunikationsbranche ableitet.
Allerdings sagt seine weite Verbreitung noch nichts aus über seinen kohärenten Gebrauch. Äußerstenfalls könnte man es mit 450.000 Deutungsvarianten des roten Fadens unter Kommunikationsprofis zu tun haben. Eine Überfülle, die zwar bei Kenntnis des Feldes nicht direkt zu erwarten ist. Uns aber dennoch zu einem Versuch der gedanklichen Klärung des beliebten Bildes und seiner Bedeutung veranlasst.
Als Buzzword ist der rote Faden in vielen Lagen leicht verlangt oder proklamiert. Und er genießt den Vorzug aller vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, kaum begründet oder näher erklärt werden zu müssen. Irgendwie kann sich jeder vorstellen, dass es wünschenswert ist, im Dschungel der eigenen kommunikativen Botschaften und Maßnahmen nicht die Orientierung zu verlieren, indem man sich an einem roten Faden von Gedanken zu Gedanken, von Element zu Element, von Phrase zu Phrase hangelt.
Womit wir auch schon beim meistverbreiteten Missverständnis wären, dem des roten Fadens als einer äußerlichen Führungs- und Orientierungshilfe. Eine, die wie der sprichwörtliche Ariadnefaden hinter sich ausgelegt wird. Gerade was diesen vom Helden Theseus auf Bitten seiner Liebsten bei seinem Gang in Minotauros‘ Labyrinth abgewickelten Faden angeht, herrscht allerdings große Unklarheit. Denn, wie schon vor einer Weile hier dargestellt, ein Labyrinth ist kein Irrgarten, sondern eher ein verschlungener Weg, den zurückzulegen nicht zuletzt eine Form von geistiger Übung darstellt. Der Weg ist zwar windungsreich, aber eindeutig; es ist also nicht möglich, sich in einem Labyrinth zu verirren – und deshalb auch nicht nötig, einen Faden zum Markieren des Rückwegs auszulegen. Warum aber riet Ariadne dann ihrem Helden, auf seinem Weg zum Ungeheuer hinter sich einen Faden zu legen? Die kulturpsychologische Deutung, dass der Faden vielmehr eine Verbindung zwischen der Außenwelt und dem Inneren des tiefen Höhlensystems sicherstellen sollte – nicht um Theseus auf dem Weg zurück zu leiten, sondern ihn nach bestandener Heldentat überhaupt wieder zur Rückkehr in die „normale“ Welt zu mahnen –, hat etwas überzeugendes. Er war also weniger ein Leit-Faden als ein Reminder. Also etwas ganz anderes als uns hier beschäftigt. Es spricht auch keine Überlieferung des Theseusmythos davon, dass der Ariadnefaden von roter Farbe gewesen sein soll. Aber das nur nebenbei.
Das Bild vom roten Faden verdanken wir bekanntlich Goethe, der in den Wahlverwandtschaften von einer seinerzeitigen Einrichtung bei der englischen Marine berichtet, nämlich in sämtliche Tauwerke einen roten Faden als Eigentumsnachweis einzuspinnen. „Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet“, überträgt Goethe den historischen Verweis ins literarische Bild.
Hier ist es wichtig, genau hinzusehen. Der rote Faden ist im Goetheschen Bild integraler Bestandteil dessen, was er verbindet. Er ist unlösbar in alle Taue eingesponnen, macht also einen inneren Zusammenhang sichtbar. Er ist keine Orientierungshilfe. Und erst recht kein Mittel, disparate, auseinanderfallende Elemente – wie etwa bei einer Roulade nach Hausfrauenart – von außen zusammenzuhalten.
Noch einmal: Der rote Faden macht den inneren Zusammenhang sichtbar, er erzeugt ihn nicht. Das setzt allerdings voraus, dass der Zusammenhang schon vorhanden ist. Oder das Ganze, um noch einmal mit Goethe zu kommen. „Der (...) das Ganze bezeichnet“, formuliert es der Meister mit großer Präzision. Es war die verbindende Eigenschaft aller Taue der britischen Marine, Eigentum der Krone zu sein. Sie wurden es nicht durch den eingesponnenen roten Faden, dieser verwies nur auf das Ganze.
Und damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt. Ohne ein Ganzes, auf das die verschiedenen Elemente einer Kommunikationsmaßnahme verweisen, ist ein roter Faden sinnlos. Oder anders: Ist dieses Ganze gegeben, wird ein roter Faden nahezu von selbst sichtbar. Fehlt das Ganze, fallen die einzelnen Teile trotz eventueller kommunikativer Kunststückchen, die einen roten Faden simulieren, auseinander.
Es geht also erst einmal darum, das verbindende Ganze, den größeren Zusammenhang zu finden. Wenn wir von Elementen einer Kommunikationsmaßnahme sprechen, denken wir uns diese Maßnahme zwangsläufig mit einer gewissen Komplexität. Dabei spielt es keine Rolle, ob es beispielsweise eine Kampagne ist, ein Programm oder eine Veranstaltung. Entscheidend ist, dass es sich nicht um eine Ansammlung von Elementen handelt, die wie die erwähnte Roulade künstlich zusammengehalten werden müssen, sondern die sich von selbst aufeinander und auf ein größeres Ganzes beziehen.
Schön, im Sinne von bequem, wäre es, ließe sich ein verbindender Zusammenhang, ein größeres Ganzes, bei Vorliegen der geplanten Elemente künstlich herstellen. Das wird natürlich oft genug versucht und mag, wie so oft im Kommunikationsgeschäft, als Kunststück auch gelingen. Da wird der rote Faden dann schnell zur generischen Worthülse, zur Sprachregelung, zur aufgesetzten Spielerei, die sich in allem und jedem wiederfinden muss. Es trägt nur nicht wirklich, denn die Wirklichkeit lässt sich nicht von Worten, Bildern oder Aktionen zwingen, denen es an innerer Stimmigkeit und Relevanz fehlt.
Das größere Ganze, ein verbindender Gedanke, eine Leitidee, findet sich vielmehr durch eine gründliche Analyse aller Inhalte, Botschaften, Notwendigkeiten, Ziele etc., die im Rahmen der Kommunikationsmaßnahme vermittelt bzw. erreicht werden sollen. So einfach ist es, und zugleich so schwer. Denn es erfordert schon ein tieferes Verständnis der Sache wie der Form, um aus der Vielzahl von Facetten den einen Gedanken zu extrahieren, der in allem steckt – und auf den alles verweist. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der sinnvoll formulierbar und somit anschlussfähig ist. Allgemein genug, aber nicht zu generisch. Mit dem Potenzial, in der Kommunikation wieder resonanzerzeugend angewendet zu werden. Und damit den roten Faden sichtbar werden zu lassen. Das ist der Kunst erster Teil.
Deren zweiter Teil besteht darin, aus dem Resultat dieses analytischen Prozesses eine formale Lösung zu entwickeln, als welche der rote Faden letztlich sichtbar wird. Das ist die kreative Synthese: Die Entwicklung eines Mottos oder Claims, von Stories, Wendungen, Metaphern, Kernaussagen etc., genauso aber auch von visuellen Konstanten, Erscheinungsbildern, Bildern und mehr. Auch räumliche, szenische oder musikalische Komponenten können den roten Faden transportieren. Entscheidend ist, dass die Synthese auf die Analyse folgt und nicht umgekehrt. Ausgedachte Worte oder Bilder können einen inneren Zusammenhang bestenfalls simulieren, aber nicht erzeugen. Dann hat man zwar einen roten Faden gesponnen, aber nicht eingesponnen. Er liegt frei und verweist lediglich auf sich selbst als Ganzes, analog zu Marshall McLuhans These „the medium is the message“. Das kann schön klingen und aussehen, bringt aber nichts. Nur schön kann bestenfalls blenden. Schön und richtig – das ist, was funktioniert.
Der rote Faden erhält seinen Wert also in mehrerlei Hinsicht: Die Analyse der kommunikativen Inhalte läuft im Grunde auf die Untersuchung der zu kommunizierenden Sache hinaus. Ist die Wirklichkeit einer Organisation – oder eines relevanten Teilbereichs von ihr – in all ihrer Komplexität weitgehend widerspruchsfrei gedanklich aufhebbar? Lassen sich Muster erkennen? Und lässt sich das Erkannte konsistent und nachvollziehbar formulieren? Diese Analyse, durchgeführt mit den Werkzeugen des externen Kommunikators, der selbst die Sache nicht repräsentiert, kann ein höchst valider Impuls sein, organisationsintern einen Prozess der Reflexion und Selbstreflexion anzustoßen.
Die Analyse zwingt aber auch die Kommunikationsexperten, sauber und gründlich zu arbeiten. Wenn die Abstraktion der Wirklichkeit auf eine gefällige Idee hin zurechtgebogen wird, knackt und knirscht es früher oder später. Natürlich kann man versuchen, ein für den Kunden schmeichelhaftes größeres Ganzes zu formulieren, eine Leitidee zu entwickeln, die den Wünschen des Managements perfekt entspricht, oder zu suggerieren, dass ein angestrebtes Ziel schon durch eine entsprechende Formulierung erreicht werden kann. Je nachdem, wie verführbar die Kundenseite durch Versprechungen ist, mag sich so etwas durchaus verkaufen lassen. Aber der faule Zauber fliegt auf, früher oder später. Einfach durch Nicht-Funktionieren. Insofern sind Ehrlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit nicht die schlechtesten Tugenden bei der Arbeit am roten Faden. Denn so können der Analyseprozess und die Ausformulierung des größeren Ganzen, des verbindenden Gedankens, ein enormes kommunikatives Potential entwickeln, das sich im Rahmen der späteren Kommunikationsmaßnahme mit entsprechender Kraft entfaltet.
Und das bringt uns zum eigentlichen Ziel und Zweck des roten Fadens: der Kommunikation mit den Zielgruppen. Ganz gleich ob intern oder extern (die internen Zielgruppen sind generell ein kritischeres, weil kompetenteres Publikum): Stimmt das Ganze in der Realität, ist die Analyse und anschlussfähige Formulierung des für die Kommunikation relevanten Ganzen realistisch und passend – und ist die kreative Sichtbarmachung dieses Ganzen durch den in allen Elementen sichtbar werdenden roten Faden, dann wird das Gesamtbild der Kommunikationsmaßnahme konsistent. Dann erschließt sich auch bei einem facettenreichen, komplexen Mix von Maßnahmen, Botschaften, Inhalten und Details eine klare Antwort auf die Frage „Was bedeutet das alles?“. Und das ist schließlich die Kernfrage. Wird sie nicht – ausdrücklich oder implizit – beantwortet, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass die vielen anderen Inhalte, Botschaften und Antworten auseinanderfallen wie Mikadostäbchen.
Ein Bild, das erneut dem Missverständnis Vorschub leisten könnte, der rote Faden sei eine Art gedankliche Schnürvorrichtung. Aber nicht mehr bei uns. Wir wissen es ja jetzt besser.